Hartwig - F. A. Q. Stand 5.4.96
Ein Hartwig ist eine spezielle Form der Kommunikation. Daher lassen sich einzelne Aspekte in die Themen Sender, Botschaft, Empfaenger und Medium aufgliedern. Die Aspekte WER sendet denn SOWAS betreffen das Wesen eines Hartwigs an sich. Eine Mail vom Typus Hartwig muß als solche identifiziert werden - dies ist die Tätigkeit der Hartwigologen. Das Phänomen 'Hartwig' im hier behandelten Sinne ist an das Medium Datenkommunikation in Netzen gebunden.
Ein ''Hartwig'' ist eine leere Meldung. Kennzeichnend fuer Hartwigs im Sinne des Hartwigologen-Kongresses ist das Auftreten von Emails in öffentlichen Nachrichtenbrettern, deren Inhalt ausschließlich aus Leerzeilen besteht.
Grundlage für die Definition des Kommunikationsphänomens ''Hartwig'' ist eine Gruppe von E-Mails, die im Schulbrett (DSN) schule.info im Februar 1996 auftraten. Diese Meldungen wurden in Anlehnung an den Namen des Absenders als ''Hartwigs'' bezeichnet.
Beispiel für eines der zur Definition verwendeten Originale ('Urhartwigs'):
Die Meldung verfügt über Absender, 'Betreff' und Zielangabe, besteht jedoch in ihrem Text nur aus zwei Leerzeilen. Weitere Beobachtungen im Netz ergaben, daß in verschiedenen Brettern Meldungen dieses Typs auftauchen. Typisch ist der Inhalt von ein bis drei Leerzeilen.
Nun treten im Netz oefters Nachrichten ohne spezifischen Inhalt auf, wie z.B.:
Derartige Meldungen werden von der Netzgemeinde stets kommentarlos ignoriert. Ganz anders hingegen ist der Effekt, der durch das Auftauchen von Hartwigs ausgelöst wird:
Diese Nullmeldungen fordern spontan den stets wachen Widerspruchsgeist anderer Leser heraus.
Typischerweise zeigen alle Rezipienten eine analoge Reaktion: Die Leermeldung wird umkopiert (neudeutsch: gequotet) und mit einem kurzen Kommentar ins Netz zurückgeschickt.
Typische Reply-Kommentare waeren z. B.
oder auch
Gemäß einer von Philipp Flesch (mit Unterstüzung durch die anderen Beteiligten) ausgerufenen Vereinbarung darf sich jeder als 'Hartwigologe' bezeichnen,
der einen Hartwig entdeckt und als solchen öffentlich gemacht hat.
Üblicherweise wird ein frischer Hartwig in das betreffende Brett als vollständiges Zitat (also ohne Streichung der Leerzeilen) zurückkopiert und mit einem
geeigneten Kommentar versehen (Beispiele bei Kapitel 1.1).
Findet in einem beliebigen Brett eine Diskussion von Hartwigologen statt, wird diese Runde als Hartwigologen-Kongreß bezeichnet. Die Gesamtheit aller Hartwigologen bildet die WHF (World Hartwig Foundation). Hier sind auch sonstige Interessenten als Gäste und assoziierte Mitglieder willkommen. Die WHF übt die Funktion eines Dachverbandes für alle Hartwig-spezifischen Aktivitäten aus. Die Grundlagenforschung und Felduntersuchungen im Netz werden von der Forschungsgruppe Hartwig durchgeführt.
Hartwigs sind eine netzspezifische Erscheinung und somit an die DFÜ, insbesondere an das Medium 'E-Mail' in öffentlichen Nachrichtenbrettern gebunden.
Nach momentanen Kenntnisstand existiert das Hauptvorkommen in verschiedenen Nachrichtenbrettern des DSN (Deutsches SchulNetz). 'Locus typicus' ist das Areal
SCHULE.INFO, jedoch werden auch SCHULE.ALLGEMEIN und speziellere Bretter gerne heimgesucht.
Auch Hartwigs aus dem FIDO-Netz und aus Übersee (via Internet) sind bekannt.
Obgleich die Zuordnung von Hartwigs noch strittig ist, wird im folgenden eine Systematik verwendet, wie sie im Reich der Tiere und Pflanzen Anwendung findet. Hartwigs und verwandte Formen werden nach Gattungen (genus) und Art (species) eingeteilt. Nach aktuellen Forschungsstand sind 2 Gattungen mit insgesamt 7 Arten bekannt, wobei nur ein Genus (Hartwigus) als Hartwig im eigentliche Sinne zählt.
Er besteht aus ein bis drei Leerzeilen, in Ausnahmefällen auch mehr. Ein klassisches Beispiel ist in Kapitel 1.1 zu finden. Hier einer aus Übersee:
Nicht alle Hartwigs hüllen sich tatsaechlich in ehernes Schweigen. Manche verweigern zwar die direkte Kommunikation durch Texteingabe, können sich
jedoch eine Kundgebung ihres Anliegens im Nachrichtenkopf nicht verkneifen.
Derartige Hartwigs sind in ihrer Aussage direkt verständlich, da eine vollständige Botschaft im 'Betreff' versteckt wurde:
oder:
Betrachten wir, was Florian an seinem Heimatland für berichtenswert erachtet:
Auch das Anligen von Chris erschließt sich ohne weitere Textbeiträge:
Das übermaechtige Vorkommen von Leerzeilen NACH den 'Footer' läßt auf eine sehr extrovertierte Persönlichkeit schließen.
Dieser Typ wird maschinell erzeugt. Die Einstufung als 'echter' Hartwig ist strittig, da hier kein menschliches Individuum als Sender auftritt.
Im banalsten Falle handelt es sich um eine der Netzgemeinde aus verschiedenen Gründen nicht zumutbaren Nachricht, deren Textteil von einem automatischen Wächter entleert wurde:
Und auch ein Recherche-Programm weiß, wann es zu schweigen hat:
Neben den klassischen Hartwigs treten im Netz verschiedene Typen von 'eigenartigen' Botschaften auf. Auf Beschluß des Hartwigologen-Kongresses in offener Diskussion wurde der Begriff 'Hartwig' auf Meldungen begrenzt, die ausschließlich aus Leerzeilen bestehen.
Für geistesverwandte Depeschen sei der Begriff 'Hartwigoid' eingeführt. Ein Hartwigoid ist eine 'in ihrer Aussage und/oder Form einem Hartwig in zumindest einigen Kriterien ähnliche Nachricht'.
Nach Feldbefund kennen wir folgende Formen:
Hierbei handelt es sich um die üblichen Fingeruebungen, wie sie von DFÜ-Neulingen in großer Zahl ins Leben gerufen werden:
oder in einfacherer Form:
Eines der schönsten Exeplare dieser Art:
Patrick Danger (pdanger@on-lite.on-luebeck.de) schuf einen inzwischen weithin bekannten Klassiker unter dem Betreff: 'Ihr AERSCHE':
Dieses Hartwigoid wurde seinerzeit von so vielen Lesern aufgegriffen, kommentiert und interpretiert, daß eine ausführliche Besprechung an dieser Stelle wohl überflüssig ist.
/Manche Beiträge bestehen durchaus aus Buchstaben, jedoch lassen sich diese nicht in Worte unterteilen oder einer bekannten Sprache zuordnen. Gelegentlich treten Aspekte der Lautmale
rei in der Textgestaltung in den Vordergrund:Christian Koch z.B. kommentierte einen laengeren Artikel mit einem unmißverständlichen:
Profunde Kenntnisse zu einem komplexen Thema zeigt uns ein Teilnehmer aus Amiland:
Diese Form ist im Volksmund auch als 'Die Kacksäcke' bekannt. Oberflächlich betrachtet scheint es sich um eine gezielte Beleidigung der Netzgemeinde zu handeln, bei näherer Betrachtung insbesondere formaler Kriterien stellt man jedoch Zugehörigkeiten zu - meist ungebräuchlichen - Sonderformen der Poesie fest.
Das Musterexemplar hierfür sendete uns ein Martin Heyde vom Goethe-Gymnasium zu Bischofswerda im Brett SCHULE.FORUM. Ich zitiere:
Hier fehlt das hartwigtypische der sprachlosen Kommunikationsverweigerung und bei genauerer Betrachtung ist diese Beispiel durchaus in schon bekannte Raster der sprachlichen Gestaltung einzuordnen: Dieses Exemplar erweist sich als ein bescheidenes - wenn auch sprachlich durchaus gewandtes - Muster der sogenanten 'Konkreten Poesie'. Hier hat das Goethe-Gymnasium die Fackel dieser lyrischen Gattung tapfer ergriffen und ins Netz geschleppt - lobenswert!
Verschiedentlich wurde ein Auftreten von Hartwigs in Gruppen beobachtet.
Es können hierbei zwei Subspezies unterschieden werden:
Massenauftreten von völlig identischen Hartwigs. Alle Hartwigs in solchen Gruppen treten -- im Rahmen der Laufzeiten im Netz -- gleichzeitig auf. Die Mails sind bis auf die 'Message-ID'-Nummer völlig identisch.
Hierzu fehlt leider noch Material. Sobald die fertige Fassung der FAQ vorliegt, wird diese Lücke gefüllt! (Anm. der Webmasterin: leider gab es die nie...)
Hierbei handelt es um Gruppen, in denen die einzelnen Hartwig zeitlich versetzt auftreten, jedoch durch ein Parameter (meistens dem 'Betreff') verknüpft sind. Die einzelnen Hartwigs einer solchen Gruppe bilden somit eine in sich geschlossene Reihe.
Eine besonders gelungene Sequenz stammt von m.finselbach mit....
gefolgt von:
danach:
und natürlich danach:
... diese Sequenz wurde natürlich bis zum bitteren Ende fortgesetzt...
Gleichzeitig ist diese Gruppe ein schönes Beispiel fuer einen Schwätzer-Hartwig, da hier die vollständige Aussage im 'Betreff' im Klartext enthalten ist.
Wir können diese Formation somit eindeutig bestimmen als einen: Hartwigus loquax continuus.
!! Dieser Abschnitt ist wahrscheinlich noch überarbeitungsbedürftig !!
(Anm. der Webmasterin: Was leider bislang auch nicht passierte...)
Die formale Beschreibung eines Hartwigs sagt natürlich noch nichts den tieferen Inhalt, die Daseinsberechtigung eines Hartwigs aus. Verschiedene Erklärungsmodelle führen natürlich auch zu unterschiedlichen Interpretationen.
Ist ein Hartwig ein bloßer Unfall, eine Mißgeburt der Datenwelt? Folgt man dieser Argumentation, so sagt ein Hartwig sehr viel über die intellektuellen Kapazitäten seines Absenders aus bzw. über dessen heroischen Kampf mit den Tücken der EDV.. (These: 'Hartwig hat breite Finger')
Oder ist DER Hartwig nur selbst ein Opfer und eine Kreatur mit obskurem Verhalten und Ansichten verwendet seinen Namen, um die Welt mit diesen dubiosen Botschaften einzudecken? (These vom 'nicht abgesicherten System'). Und wenn diese Interpretation zutrifft, sollte die globale Verbreitung von Hartwigs uns da nicht sehr zu denken geben? (These von der 'Internationalen Verschwörung').
Wir favoritisieren - weil wir gerne an das Gute im Menschen glauben :-) und weil in derartigen Fällen diese Auslegung immer die richtige ist - die progressive Interpretation und sagen:
HARTWIG IST KUNST.
Man betrachte das wichtigste Element eines Hartwigs -- seine Leerzeilen: Schlichte Schönheit, Transzendenz der Aussage, ja etwas Zen-artiges strahlen sie in ihrer anrührenden Blöße aus. Ein echter Hartwig ist somit nicht nur hochgradig abstrakt, nein - die Formgebung ist auch sehr streng ritualisiert.
Die klare Diktion, der schnörkellose, ja geradezu brutal direkte Satzbau stellt den Hartwig in die vorderste Reihe der zeitgenössischen Literatur.
Gerade der völlige Mangel an Information irritiert den Leser im Moment der ersten Begegnung. Doch in der ruhigen Betrachtung erschließt sich erst die
unmißverständliche Aussage eines Hartwig:
Offensichtlich existiert hinter jeder Hartwig-Mail eine unerschütterliche Meinung, alles wesentliche hiermit (also mit einer
bestimmten Anzahl von Leerzeilen) bereits gesagt zu haben.
Die philosophische Wertigkeit eines Hartwigs ist somit soweit von unserem normalen System der Kommunikation entfernt, daß wir nur mühsam Vergleichbares finden können (Dada? Konfuzius? Frühe vulkanische Philosphen? Heraklit?)
Begleitet wird das Phänomen von einem auffälligen Mangel an Rechtfertigungszwang von Seiten des Absenders. Noch nie hat es ein Hartwig-Produzent für nötig befunden, auf das folgende öffentliche Genörgel zu antworten. Anders als der typische Absender von Testmails ('test. Don't reply') hat der Sender kein zwanghaftes Bedürfnis, sich bei der Netzgemeinde zu entschuldigen. Wir können dies als Hinweis auf ein sehr hoch entwickeltes Selbstbewußtsein werten, oder aber als ein sehr hochfliegendes 'Abgehobensein' von den Niederungen des Netzes.
Möglicherweise sind wir die einzigen bewußt wahrnehmenden Zeitzeugen der Entstehung einer neuen Kommunikationsform, eben des Hartwigismus. Auch der Dadaismus hat mal klein angefangen...
Die Frage nach Daseinsberechtigung und Informationsgehalt wird in den kommenden Jahrzehnten Generationen von Germanisten und Medienwissenschaftler beschäftigen, zahllose Haus-, Diplom-, Magister- und Doktorarbeiten werden das Licht der Welt erblicken.
Und wir Hartwigologen werden dereinst im Alter ergraut mit tränenblinden Augen im Rollstuhl sitzen und als Ehrengaeste des LXXIV. Intercontinental Hartwig Research Congress das Podium hüten. Und mit müder Gebärde werden wir uns auf die morschen Schultern klopfen und einträchtig mümmelnd murmeln: Ja, damals...
Hartwig-FAQ © '96 by Michael Link - Online-Version © '96-2020 by A.C.Naß